Subkommission Klinik der Eidgenössischen Kommission für AIDS-Fragen (EKAF): HIV-Exposition im Medizinalbereich: Allgemeine Massnahmen, Chemoprophylaxe und Meldung


     
     

    (Bulletin des Bundesamtes für Gesundheit 1997;7:5-12, 24. Februar 1997)
     

    1. Einführung

    Für Medizinalpersonen besteht ein Risiko, sich beim Kontakt mit Blut oder anderen biologischen Flüssigkeiten mit HIV zu infizieren. Dieses Risiko ist allerdings sehr klein.
    Bis Ende 1995 sind weltweit 223 HIV Infektionen bekannt geworden, die sich wahrscheinlich im Rahmen der Berufsausübung zugetragen haben. In 79 Fällen wurde eine Serokonversion durch nacheinander durchgeführte HIV-Tests dokumentiert. In den restlichen Fällen wurde eine positive HIV-Serologie nach einer möglichen beruflichen Exposition festgestellt, ohne dass ein anderer Risikofaktor vorhanden war (1).
    Die Mehrheit der beruflichen Infektionen erfolgte nach einer Verletzung durch eine Nadel oder einen scharfen Gegenstand und einige wenige Fälle durch Blutexposition von Schleimhaut oder lädierter Haut. Diese Angaben berücksichtigen nur die gemeldeten und dokumentierten Fälle und unterschätzen mit Sicherheit die Realität (2). Prospektive Studien, die in verschiedenen Ländern durchgeführt wurden und insgesamt über 6000 Patienten umfassen, ermöglichen die Schätzung des Transmissionsrisikos nach einer perkutanen Exposition mit HIV-positivem Blut, welches in der Grössenordnung von 0,3 % liegt (1). Das Risiko einer Schleimhautexposition wird mit 0,03% angegeben; dies wurde von einem Kollektiv von 2885 in solcher Weise exponierter Medizinalpersonen ermittelt. 1 Serokonversion ist davon dokumentiert (1). Obwohl diese Daten zeigen, dass das Risiko einer berufsbedingten HIV-Infektion sehr klein ist, sind die Konsequenzen einer solchen Infektion gravierend. Da keine Impfung verfügbar ist, müssen sich die Anstrengungen auf die primäre Prävention der HIV-Expositionen richten.
     

    1.1 Die Situation in der Schweiz

    Im Januar 1989 hat das Bundesamt für Gesundheit alle medizinischen Institutionen eingeladen, die beruflichen HIV-Expositionen mittels eines Fragebogens zu melden. Es wurde empfohlen, bei den exponierten Personen zu den Zeitpunkten 0, 3 und 6 Monate eine serologische HIV-Untersuchung durchzuführen. Diese Resultate wurden für die Romandie und das Tessin am Universitätsspital Lausanne und für die deutsche Schweiz am Universitätsspital Zürich gesammelt. Bis zum 31. Dezember 1995 wurden insgesamt 567 HIV-Expositionen gemeldet, darin eingeschlossen sind 42 Fälle vor 1989. Dabei handelte es sich um 335 Verletzungen und um 216 mukokutane Expositionen (bei den restlichen Fragebogen fehlen die Angaben). Bei den Verletzungen erfolgten die Expositionen in 58 % der Fälle durch Blut und in 13 % durch eine andere biologische Flüssigkeit. 29% waren unbekannt. Serologische HIV-Untersuchungen zum Zeitpunkt 0 und 3 Monate wurden bei 256 Personen mit einer Verletzung und bei 118 Personen mit einem anderen Typ der Exposition durchgeführt. Bisher sind in der Schweiz zwei Fällen von berufsbedingten HIV-Transmissionen bekannt geworden. Ein erster Fall in der Schweiz wurde im März 1995 beschrieben (3). Eine Krankenschwester hat sich beim Entsorgen einer Nadel in einen Nadelentsorgungsbehälter an einer anderen Nadel verletzt. Auf der gleichen Abteilung lag zur gleichen Zeit ein Patient mit AIDS. Nachträglich konnte nachgewiesen werden, dass die infektionsverursachende Nadel von diesem Patienten stammte. 3 Monate nach dem Unfall musste eine Serokonversion festgestellt werden. In einem zweiten Fall wurde bei einer Krankenschwester ebenfalls im Zusammenhang mit einer Nadelstichverletzung eine Serokonversion festgestellt. Die Krankenschwester hat unmittelbar vor der Verletzung einem terminalen AIDS-Patienten eine Injektion verabreicht.


     
     

    2. Primäre Prävention

    Das Prinzip der primären Prävention der HIV-Infektion und anderen blutübertragenen Infektionskrankheiten beruht auf der systematischen Anwendung von Massnahmen, die jeglichen Kontakt mit Blut oder biologischen Körperflüssigkeiten unabhängig vom Serostatus des Patienten verhindern (Allgemeine Vorsichtsmassnahmen). Diese Massnahmen wurden im einer SUVA-Broschüre im Detail beschrieben (4).
    Zusammenfassend beinhalten diese Massnahmen folgendes: Es sind sämtliche Vorsichtsmassnahmen zu ergreifen, um Verletzungen des Personals zu verhindern, insbesondere akzidentielle Verletzungen mit kontaminierten Nadeln und anderen scharfen Objekten. Sämtliche Manipulationen mit gebrauchten Nadeln und im speziellen das Wiederaufsetzen des Nadelschutzes (Re-Capping) sind zu vermeiden. Zudem sollen gut erreichbare, stichsichere Behälter für die korrekte Entsorgung von spitzigen und scharfen Gegenständen verfügbar sein. Mittlerweile sind verschiedene Sicherheitsprodukte wie Nadeln, die nach Gebrauch automatisch mit einer Schutzhülle versehen werden, entwickelt worden. Der Gebrauchswert dieser Systeme ist allerdings bis jetzt noch nicht etabliert. In allen Fällen, in denen ein Kontakt (oder Spritzer) mit Blut oder mit biologischen Flüssigkeiten möglich ist, wird empfohlen, Handschuhe (und allenfalls Brillen, Schutzmasken oder Schürzen) zu tragen. Es sei an dieser Stelle auch an die Notwendigkeit eines vollständigen Impfschutzes gegen Hepatitis B erinnert. Die Spitalträger sind für die Verbreitung und Verfügbarkeit der Präventionsmittel in ihren Institutionen verantwortlich.


     
     

    3. Massnahmen nach einer Verletzung oder nach anderen Expositionen mit potentiell infektiösem Blut oder infektiöser biologischer Flüssigkeit
     

    3.1 Definition

    Folgende Expositionen mit potentiell infektiösem Blut oder infektiöser biologischer Flüssigkeit werden als signifikant erachtet:

    1. Verletzungen mit durch Blut oder biologische Flüssigkeit kontaminierten Gegenständen. Gemäss Tabelle 1 bestehen folgende Risikofaktoren:
      1. tiefe Verletzung
      2. sichtbares Blut am verletzenden Gegenstand
      3. verletzender Gegenstand hatte vorgängig Kontakt mit Blutgefäss (arteriell oder venös) des Indexpatienten
      4. Indexpatient in terminalem Stadium
    2. Expositionen von Schleimhaut oder lädierter Haut mit Blut oder biologischer Flüssigkeit, welche sichtbar mit Blut kontaminiert ist.
    3. Expositionen mit konzentrierten Virussuspensionen


    Obwohl unsichtbare kutane Läsionen theoretisch ebenfalls eine mögliche Eintrittspforte sein könnten, werden Kontakte mit Blut oder mit biologischer Flüssigkeit bei offensichtlich intakter Haut nicht als signifikante Expositionen betrachtet, ausgenommen massive Kontakte oder Kontakte von längerer Dauer (mehrere Minuten). Sofortiges Waschen mit Wasser und Seife sowie eine Desinfektion sind empfohlen. Obwohl einige Viren (darunter HIV) an der Luft schnell inaktiviert werden (5, 6), soll alles kontaminierte Material im medizinischen Bereich als potentiell infektiös betrachtet werden, ausser wenn zwischen Kontamination und Exposition eine lange Dauer (länger als einige Stunden) liegt.
     

    3.2 Notfallmassnahmen


    3.3 HIV bezogene Massnahmen nach einer Exposition
    (bezüglich Hepatitis siehe SUVA - Broschüre "Verhütung blutübertragbarer Infektionen im Gesundheitsbereich" (4))

    Die weiteren durchzuführenden Massnahmen hängen vom relativen Risiko einer HIV-Transmission ab und sind in der Abbildung 1 zusammengefasst. Unmittelbar nach dem Unfallereignis müssen zwei Punkte geklärt werden:

    1. Liegt beim Indexpatienten eine sichere oder potentielle HIV-Infektion vor, und wenn ja, in welchem Stadium befindet sie sich?
    2. Handelt es sich um eine signifikante Exposition, das heisst besteht aufgrund der Expositionsart ein HIV-Übertragungsrisiko?
    Bei der Abklärung des ersten Punktes spielen die Zeitverhältnisse ein entscheidende Rolle. Eine allenfalls notwendige antiretrovirale Prophylaxe sollte möglichst sofort begonnen werden. Dies ist einfach, wenn die Diagnose einer HIV-Infektion beim Patienten bekannt ist. Häufig ist dem jedoch nicht so. In dieser Situation muss aufgrund von anamnestischen Angaben, Art und Ort der Institution und anderen Faktoren das Risiko des Vorliegens einer HIV-Infektion abgeschätzt werden. Dadurch kann das Vorliegen einer HIV-Infektion im individuellen Fall nicht immer eindeutig ausgeschlossen werden. Allerdings wurde in Studien mit systematischer Testung von hospitalisierten Patienten relativ selten HIV-Infektionen entdeckt, die nicht schon vorher bekannt waren. Zudem ist das Übertragungsrisiko beim Vorliegen einer asymptomatischen HIV-Infektion kleiner; das Vorliegen einer terminalen AIDS-Erkrankung mit dem damit verbundenen hohen viral load ist ein wesentlicher Risikofaktor. Im Zweifelsfall muss mit der Prophylaxe begonnen und anschliessend beim Indexpatienten eine HIV-Serologie durchgeführt werden (vergl. Kapitel 3.4). Wenn das Resultat negativ ausfällt, kann die Prophylaxe wieder abgebrochen werden. Dies bedingt eine rasche Verfügbarkeit eines HIV-Tests.
    Einen entscheidenden Einfluss auf das Übertragungsrisiko hat die Art der Exposition. Die Risikofaktoren sind in Tabelle 1 zusammengestellt. Die Abschätzung des individuellen Risikos kann als Anhaltspunkt für die Indikationsstellung dienen. Im Zweifelsfalle sollte aufgrund der nachgewiesenen Wirksamkeit der Prophylaxe und der gravierenden Folgen eine solche empfohlen werden.
    Damit eine Prophylaxe sofort begonnen werden kann, muss jede exponierte Medizinalperson so rasch wie möglich einen zuständigen Arzt aufsuchen können, der die notwendigen Massnahmen kennt und diese umgehend einleitet. Jede Institution hat das Vorgehen nach einer Exposition zu definieren und den Mitarbeitern bekannt zu machen. Der verantwortliche Arzt muss im Gespräch mit den betroffenen Personen (Indexpatient und exponierte Person) entscheiden, mit welchen Massnahmen festgestellt werden soll, ob es sich effektiv um eine HIV-Exposition handelt. Er hat sich über die Art, den involvierten Verletzungsgegenstand und den Schweregrad der Exposition ein Urteil zu bilden. Zusätzlich hat er zu überlegen, ob eventuell weitere Massnahmen zu ergreifen sind (Massnahmen zur Verhinderung weiterer Unfälle, zusätzliche prophylaktische und therapeutische Massnahmen etc.). Serologische Untersuchungen beim Indexpatienten oder beim Exponierten sollen nur durchgeführt werden, wenn es sich effektiv um eine relevante, potentielle HIV-Exposition gehandelt hat. Die Kosten für diese Untersuchungen dürfen weder dem Indexpatienten noch dem Angestellten belastet werden.
    Der verantwortliche Arzt sollte in der Lage sein, über das Risiko einer HIV-Übertragung zu informieren sowie über die Übertragung in der Inkubationsphase (Schwangerschaft, Sexualpartner, Blutspenden, Stillen), wie auch über die Symptomatik einer allfälligen primären HIV-Infektion. Er sollte optimal über die Zweckmässigkeit einer antiretroviralen Prophylaxe beraten. Neben der notfallmässigen Betreuung durch den zuständigen Arzt muss auch die ärztliche Weiterbetreuung der exponierten Person gewährleistet sein.
    Die hier empfohlenen Substanzen zur Chemoprophylaxe sollten für den sofortigen Beginn in allen Institutionen, in denen HIV-positive Patienten betreut werden, vorhanden sein. Wie bei allen Berufsunfällen bedarf auch die HIV-Exposition einer Meldung an den Versicherer (Gesetz betreffend Berufs- und Nichtberufsunfälle). Zusätzlich sollen effektive oder vermutete HIV-, HBV und HCV - Expositionen mit Hilfe des Fragebogens den vom Bundesamt für Gesundheit bezeichneten Referenzzentren gemeldet werden (Romandie und Tessin: Centre hospitalier universitaire vaudois, Prof. P. Francioli, Division autonome de m&eecute;dicine pr&eecute;ventive hospitali&egave;re, 1011 Lausanne, Telephone: 021 314 02 52); deutsche Schweiz und Graubünden: Universitätsspital Zürich, Dr. J. Jost, Abteilung Infektionskrankheiten und Spitalhygiene, Rämistrasse 100, 8091 Zürich, Telefon: 01 255 33 22). Nicht zu melden sind Expositionen ohne zugrunde liegendes Risiko, d.h. wenn beim Indexpatienten weder serologisch noch anamnestisch Hinweise für eine blutübertragbare Infektionskrankheit vorhanden sind. Medizinalpersonen, bei denen eine antiretrovirale Behandlung begonnen wurde, sollte hingegen in jedem Fall gemeldet werden. Dabei ist die Vertraulichkeit der Daten zu gewährleisten.